Von Helfern ohne Ausbildung zum Bedarf nach Standards
Noch bis in die frühen 1970er-Jahre war der Rettungsdienst in Deutschland ein Flickenteppich. Fahrdienste wurden oft von Hilfsorganisationen wie DRK, ASB, Johannitern oder Maltesern gestellt, doch die eingesetzten Helfer hatten meist keine einheitliche Qualifikation. Häufig fuhren einfache Fahrer mit einem Helfer im Wagen, die im Notfall gerade einmal grundlegende Erste Hilfe beherrschten. Eine systematische Ausbildung gab es nicht, und die Unterschiede in der Versorgungsqualität waren enorm.
Die Gesellschaft veränderte sich: Mehr Autos, mehr Unfälle, mehr medizinischer Fortschritt – und damit ein wachsender Anspruch an eine professionelle Versorgung auch außerhalb der Klinik. Immer öfter wurde deutlich, dass das alte System nicht mehr ausreichte.
Ein Schlüsselmoment: Die Björn-Steiger-Stiftung
1969 ereignete sich ein Unfall, der die Entwicklung beschleunigte. Der achtjährige Björn Steiger starb nach einem Verkehrsunfall, weil es keinen schnell verfügbaren, ausreichend qualifizierten Rettungsdienst gab. Seine Eltern gründeten daraufhin die Björn-Steiger-Stiftung und machten die katastrophale Lage öffentlich. Sie forderten eine einheitliche Notrufnummer, moderne Fahrzeuge – und vor allem: geschultes Personal.
Durch ihren unermüdlichen Einsatz geriet die Politik unter Druck. Die Stiftung gilt bis heute als einer der entscheidenden Motoren für die Professionalisierung des deutschen Rettungsdienstes.
Politische Reaktion: Der Bund-Länder-Ausschuss Rettungswesen
1972 gründeten Bund und Länder gemeinsam den Bund-Länder-Ausschuss Rettungswesen. Dort erarbeiteten Vertreter der Länder und des Bundesinnenministeriums Konzepte, um die Ausbildung im Rettungsdienst auf eine einheitliche Grundlage zu stellen. Ziel war es, Mindeststandards zu schaffen, die in allen Bundesländern galten.
Fünf Jahre später, 1977, war das Ergebnis da: die „Grundsätze zur Ausbildung des Personals im Rettungsdienst“. Sie markierten die Geburtsstunde des Rettungssanitäters – eine Qualifikation, die erstmals klar definiert, verbindlich und bundesweit anerkannt war.
1977: Die Geburtsstunde des Rettungssanitäters
Die neue Ausbildung war bewusst praxisnah und überschaubar gehalten: 520 Stunden insgesamt, unterteilt in 160 Stunden Theorie, 160 Stunden Klinikpraktikum, 160 Stunden Rettungswachenpraktikum und 40 Stunden Abschlusslehrgang mit Prüfung.
Das Konzept war eine pragmatische Lösung: Der Rettungssanitäter sollte als Fahrer, Transportführer und Assistenzkraft im Rettungsdienst eingesetzt werden. Er war damit das erste bundesweit geregelte Ausbildungsmodell für nicht-ärztliches Rettungspersonal. Für die großen Hilfsorganisationen war dies ein Meilenstein, weil es ihnen erstmals ein klares Raster für ihre Schulungen gab.
Vom Provisorium zum festen Bestandteil
Ursprünglich als schnelle Qualifikation gedacht, entwickelte sich der Rettungssanitäter rasch zu einer festen Größe im Rettungsdienst. Bis zur Einführung des zweijährigen Rettungsassistenten 1989 war er sogar die höchste geregelte Qualifikation. Selbst nach Einführung des Rettungsassistenten blieb er unverzichtbar – als Fahrer im Krankentransport, als Teampartner auf dem Rettungswagen, als Basis für Ehrenamtliche und Quereinsteiger.
Historische Bedeutung
Rückblickend markiert der Rettungssanitäter den eigentlichen Beginn der Professionalisierung des deutschen Rettungsdienstes. Er war die Antwort auf öffentliche Forderungen nach mehr Qualität und Sicherheit, wurde politisch durchgesetzt und organisatorisch von den Hilfsorganisationen getragen. Ohne ihn wäre der Weg zum späteren Rettungsassistenten und Notfallsanitäter kaum möglich gewesen.
Fazit: Ein Beruf aus der Not geboren
Der Rettungssanitäter entstand nicht aus theoretischen Überlegungen, sondern aus einer drängenden Notwendigkeit. Tragische Ereignisse wie der Tod von Björn Steiger machten deutlich, dass Deutschland dringend einheitliche Ausbildungsstandards brauchte. 1977 wurde die Lücke geschlossen – mit einem klar strukturierten, schnellen Ausbildungsweg.
Auch wenn heute der Notfallsanitäter die höchste Qualifikation im Rettungsdienst darstellt, bleibt der Rettungssanitäter historisch gesehen die erste systematisch geregelte Fachkraft des modernen Rettungswesens. Er ist bis heute ein fester Bestandteil des Systems – und die eigentliche Geburtsstunde des professionellen Rettungsdienstes in Deutschland.

Über den Autor
Christopher Kern ist Medizinpädagoge mit Schwerpunkt Rettungsmedizin und Schuldirektor der KERN Bildungsgesellschaft. Seine Leidenschaft gilt prägnanten und aussagekräftigen Blogbeiträgen, mit denen er das Angebot der KERN Bildungsgesellschaft durch fundierte Informationen beleuchtet und wichtige Schwerpunktthemen behandelt. Darüber hinaus beschäftigt sich Herr Kern in seinen Beiträgen mit pädagogischen Strategien zur Optimierung der Lehre im Bereich der Rettungsmedizin.